13 Mythen: Wahr oder falsch – Was zur Ungleich­heit bekannt ist

Für viel Aufregung sorgt immer wieder die Frage, ob Einkommen und Vermögen in Deutschland zu weit auseinandergehen – oder nicht. Das lag lange Zeit auch daran, dass es kaum unstrittige amtliche Statistiken gab. Jetzt gibt es mehr Daten - und zunehmend Konsens unter Fachleuten, was wahr und unwahr ist.

• Stimmt es, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland seit 2005 nicht mehr zugenommen hat?

  Richtig ist, dass sich die Einkommensverhältnisse seit Mitte der 2000er-Jahre alles in allem nicht mehr stark auseinanderentwickelt haben. Die Ungleichverteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen, wie sie durch den Gini-Index statistisch auf eine Zahl gebracht wird, lag 2005 bei knapp 0,29; 2019 waren es 0,296 (1). Das ist ein leichter Anstieg über die Jahre. Werte von 0 entsprächen einer völligen Gleichverteilung, ein Wert von 1 käme einer absoluten Ungleichverteilung gleich. Zu einem leichten Rückgang der Ungleichverteilung kam es dabei in den Jahren nach 2015, was stark auf die Einführung des Mindestlohns zurückzuführen sein dürfte.

  Richtig ist nur auch, dass die Ungleichheit zuvor drastisch gestiegen war – und es somit zu keiner Korrektur gekommen ist. Von Mitte der 1990er-Jahre bis 2005 war der Gini für die verfügbaren Haushaltseinkommen von einem Wert unter 0,25 auf fast 0,29 gestiegen. Ähnliches ergibt sich, wenn man Top- und Durchschnitteinkommen in Relation setzt. Der Anteil der oberen zehn Prozent der Haushalte an allen Einkommen erreichte Mitte der 2000er-Jahre 40 Prozent; noch Ende der 1960er-Jahre waren es nur 30 Prozent. Der Anteil der unteren Hälfte fiel in dieser Zeit von 30 auf nur noch 16 Prozent (2). Die Jahreseinkommen lagen bei den oberen zehn Prozent 1998 acht Mal höher als bei den unteren – 2010 waren es fünfzehn Mal mehr.

  Diese Bilanz ist umso bemerkenswerter, als in Deutschland seit 2005 die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist. Da Millionen Menschen seither eine bezahlte Arbeit gefunden haben, wäre ein stärkerer Abbau der Ungleichheit zu erwarten gewesen. Offenbar stecken dahinter tiefere Ursachen. Wenn die Einkommen nach wie vor so stark auseinander liegen, hat das zu einem Teil auch damit zu tun, dass seit den 1990er-Jahren der Anteil der Menschen zugenommen hat, die nur Teilzeit arbeiten (können oder wollen). Das Monats- oder Jahreseinkommen ist bei ihnen aufgrund der geringeren Stundenzahl natürlich kleiner. Auch wirkt sich die Zuwanderung aus, da überproportional viele Geflüchtete mangels entsprechender Qualifikation in geringer bezahlten Jobs arbeiten.

  Misst man die Ungleichheit an den Löhnen je Stunde (statt an den Monats- oder Jahreseinkommen), ist diese durchaus zurückgegangen, wobei es den stärksten Rückgang tatsächlich seit Einführung des Mindestlohns gab. Auch hier war es allerdings zwischen Mitte der 1990er- und Mitte der 2000er-Jahre zu einem starken Anstieg gekommen, der nach wie vor nicht vollständig wieder wettgemacht wurde.

• Der Mindestlohn hilft gegen Ungleichheit und Armut wenig. Wirklich?

  Seit 2015 liegen die Unterschiede zwischen hohen und niedrigeren Stundenlöhnen in Deutschland niedriger als in der Zeit davor. Noch zu Beginn des Jahrzehnts hatten die Top-Zehn-Prozent der Lohnempfänger rund vier Mal so viel Bruttolohn je Stunde wie die unteren zehn Prozent – seit 2015 ist die Rate auf 3,4 gesunken. Und: die Spreizung der (Erwerbs-)Einkommen am unteren Ende der Verteilung hat dabei besonders deutlich nachgelassen. All das lässt darauf schließen, dass die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro je Stunde im Jahr 2015 zu diesem Abbau von Ungleichheit beigetragen hat (3). Das bestätigen inzwischen auch umfangreichere Studien (4). Anders als Kritiker prophezeit hatten, hatte die Einführung der Untergrenze auch zu keinem Massenverlust an Jobs geführt, was den Rückgang der Ungleichheit gebremst hätte (5). Seit Mitte der 2010er-Jahre hat auch das Armutsrisiko nach gängigen Berechnungen für Deutschland nicht weiter zugenommen – es hat allerdings auch nicht spürbar nachgelassen. Durch massive Reallohnverluste in Zeiten einer historischen Inflation ist die Armutgefährdungsquote zuletzt seit der Corona-Pandemie sogar wieder angestiegen.

• Deutschland gibt fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts für Soziales aus. So ungleich kann es doch nicht zugehen, oder?

  Deutschland gehört tatsächlich zu den Ländern mit den relativ höchsten Sozialausgaben innerhalb der EU und weltweit. Hohe Ausgaben für Soziales bedeuten nur nicht automatisch, dass Einkommen und Vermögen an sich gleich verteilt sind. Es kann ja sogar sein, dass ein Land gerade deshalb so viel für Soziales ausgeben muss, weil die Verhältnisse am Markt so ungleich sind. Dies trifft auf Deutschland durchaus zu. Wie viel umverteilt wird (oder werden muss, um ungleiche Verhältnisse auszugleichen), lässt sich beim Vergleich zwischen Brutto- und Nettoverdiensten erkennen. Misst man die Ungleichheit mit dem gängigen Gini-Koeffizienten, ergibt sich für die monatlichen Bruttoeinkommen 2020 in Deutschland ein Wert von 0,37 (bei den Jahreseinkommen sogar von 0,46) (6). Berücksichtigt man Steuern und Abgaben, also die Umverteilung, reduziert sich die Ungleichverteilung bei den entsprechenden Netto-Einkommen auf einen Gini von 0,29. Selbst dieser Wert ist aber gegenüber früher stark gestiegen – und liegt über dem EU-Durchschnitt. Ohne Umverteilung würde Deutschland zu den Ländern mit den am stärksten ungleich verteilten Einkommen in ganz Europa zählen (7).

• Ist das Reichtumsgefälle in Deutschland gar nicht schlimmer geworden?

  Zur Entwicklung der Vermögensungleichheit kursieren in Deutschland ziemlich widersprüchliche Aussagen – auch die, dass es gar keine Verschlimmerung gibt. Die Verwirrung lässt sich auflösen. Zwar ist der oft zitierte Gini-Koeffizient, der die Verteilung in einem Wert zu messen versucht, zwischen 2004 und 2019 für Deutschlands Vermögen in etwa stabil geblieben (8). Der Haken ist, dass dieser Index bei der Messung von Vermögensungleichheit weniger geeignet ist (als etwa bei der Verteilung von Einkommen). Der Index misst statistisch vor allem, wie sehr sich die Verhältnisse zwischen denen verändern, die Vermögen haben; dabei haben viele Menschen gar kein Vermögen.

  Tatsächlich hat aber gerade in den vergangenen 20 Jahren der Abstand der Reichen zu denjenigen drastisch zugenommen, die sehr wenig oder gar kein Vermögen haben (9). Während die oberen zehn Prozent ihr Vermögen seit der Wiedervereinigung verdoppeln konnten, stieg das Vermögen der unteren Hälfte um weniger als 10 Prozent. Dieses Auseinanderdriften wird durch Abstandsmaße besser erfasst als durch den Gini, also etwa durch den gemessenen Abstand zwischen oben und unten. So war das durchschnittliche Vermögen der obersten zehn Prozent 1993 bereits 50-mal höher als das der unteren Hälfte; im Jahr 2018 waren es bereits 100-mal mehr – eine Verdopplung, die der Gini-Index irreführender Weise gar nicht ausweist. Ein anderes Maß macht den Trend ebenso deutlich: Der ohnehin geringe Anteil der unteren Hälfte am Gesamtvermögen sank seit 1993 von mehr als 5 auf weniger als drei Prozent.

  Sprich: umfassend gemessen hat sich das Gefälle zwischen Reich und Arm seit 1993 in Deutschland sogar deutlich verschärft. Dass der Gini-Index dagegen so wenig gestiegen ist, hat vor allem damit zu tun, dass die Mittelschicht – und dort vor allem die Hausbesitzer – dank des starken Anstiegs der Immobilienpreise mit den Top-Vermögenden (die meist auf Aktien setzen) gut mithalten konnte (10). Der Abstand zwischen den oberen Kategorien ist dadurch nicht größer geworden.

• Weiß man überhaupt, wie viel Vermögen die Reichsten haben?

  Lange Zeit gab es nur sehr lückenhafte Daten zur Vermögensverteilung. Das lag vor allem daran, dass die amtliche Statistik dazu eher stiefmütterlich behandelt wurde – und es etwa aus Datenschutz-Gründen schwieriger war, die Vermögen der Superreichen zu ermitteln. Seit 1997 die Vermögensteuer ausgesetzt wurde, fiel für Deutschland zudem die Möglichkeit weg, über die Steuererhebung Daten zu erfassen. Die Datenlücken haben internationale Forscher wie Thomas Piketty, Emmanuel Saez und andere über Umfragen und Auswertungen von Steuer- und Erbschaftsdaten zu füllen versucht. In Deutschland versuchten das unter anderem die Forscher und Forscherinnen des SOEP (Sozio-Oekonomisches Panel), wobei sich auch das als schwierig erwies, da die Betroffenen oft nicht auf Erhebungen antworten. Zusätzlich werden seit einiger Zeit daher auch die Daten eingerechnet, die sich aus der Liste der reichsten 100 Deutschen ableiten lassen, wie sie regelmäßig vom Manager Magazin ermittelt werden.

  Bei jeder neuen Runde der Zuschätzungen wurde offenbar, dass die bisherigen Daten das Ausmaß der Vermögenskonzentration an der Spitze unterschätzten. Nach konventioneller Erhebung ergibt sich für Deutschland ein Gini-Index von 0,71 (1993). Werden auf Basis amtlicher Umfragen bei den Haushalten zusätzliche Vermögen erfasst, wie das bei gängigen Erhebungen des SOEP der Fall ist, liegt der Gini-Index im Jahr 2019 spürbar höher: bei 0,78. Auch in diesen Umfragen werden sehr hohe Vermögen angesichts mangelnder Antworten noch unvollständig erfasst. Wird eine separate Stichprobe unter Reichen einbezogen, erreicht der Gini-Koeffizient im SOEP 0,81. Bezieht man die Erkenntnisse des Reichsten-Rankings mit ein, erreicht der Index sogar einen noch höheren Wert von 0,83 (11).

• Sind Friedrich Merz und Olaf Scholz nicht reich?

  Für viel Aufregung sorgte vor einiger Zeit, als sich Politiker Friedrich Merz als Teil der „gehobenen Mittelschicht“ und Bundeskanzler Olaf Scholz als „nicht reich“ einstuften (12). Dass Menschen sich selbst als ärmer einstufen als sie sind, ist nach Auswertungen von Forschern der Universität Hannover zwar nicht selten. Bei den beiden Politikern fiel’s nur besonders auf. Dabei gibt es tatsächlich weder für Deutschland, noch international ein anerkanntes Maß dafür, ab wann jemand "reich" ist.

  Nach einer Klassifizierung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gilt ein Alleinstehender, der mehr als 4.400 Euro netto im Monat verdient, als "relativ reich". Wobei die Kategorie nach oben offen ist, also auch sehr viel reichere Menschen, die zum Beispiel ein sechstelliges Monatseinkommen haben, als “relativ reich” gelten.

  Besser messen lässt sich dagegen, wie ein Jeder und eine Jede im Vergleich zum Rest der Bevölkerung dasteht. Nach amtlicher Statistik zählt ein Alleinstehender mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 3.892 Euro zu den reichsten 7 Prozent der Bevölkerung (13). Das ist in etwa das Doppelte von dem Monatseinkommen, das jemand in der Mitte der Gesellschaft hat (Medianeinkommen). Mit einem Jahreseinkommen von etwa 360.000 Euro (14) zählt der Bundeskanzler sogar zu den 0,1 Prozent Top-Einkommensbeziehern (15). Wenn das nicht mal reich ist.

• Haben die Deutschen durch ihre Rentenansprüche de facto nicht viel mehr Vermögen (als andere)?

  Sind die (meisten) Deutschen nicht in Wirklichkeit viel reicher, wenn berücksichtigt würde, dass sie in aller Regel im Alter auf die Auszahlung der gesetzlichen Rente zählen können? Anderswo gibt es solche Ansprüche nicht, weshalb die Menschen dort viel mehr sparen und eigene Vermögen bilden – dafür aber auch weniger in die Rentenversicherung einbezahlen müssen.

  Dass die gesetzliche Rente eine Art Vermögen ist, ist unbestritten. Nur: welchen Unterschied macht das? Experten vom DIW Berlin haben 2023 erstmals umfassend geschätzt, was sich an der Verteilung der Vermögen ändern würde, würden die Rentenansprüche als de-facto-Vermögen eingerechnet. Das durchschnittliche Vermögen in der unteren Hälfte würde von knapp 30.000 auf 94.000 Euro steigen; der Anteil am Gesamtvermögen stiege von 2 auf immerhin 9 Prozent.

  Der Anteil der Top-Ein-Prozent würde in der um Rentenansprüche erweiterten Vermögensrechnung umgekehrt von 30 auf 20 Prozent fallen; bei den Reichsten machen die Renten nur einen kleinen Teil der Vermögen. Ähnliches hatten frühere Schätzungen ergeben. Gemessen am Gini-Koeffizienten, der die Ungleichheit insgesamt auf einen Wert zu bringen versucht, fiel die Ungleichheit in Deutschland danach um etwa ein Viertel. Damit war Deutschland rechnerisch dank gesetzlicher Rentenansprüche zwar tatsächlich weniger ungleich – aber immer noch ungleicher als viele andere Länder. Nimmt man die Schätzungen des DIW von 2023 zum Maßstab, liegen die um die Rentenansprüche erweiterten Vermögen in Deutschland alles in allem bei fast 850 Prozent der Einkommen. Ohne Bereinigung sind es 570 Prozent, was deutlich mehr ist als etwa in den USA (540 Prozent) und Schweden (500 Prozent); Frankreich kommt ebenfalls auf 570 Prozent (16).

• Stimmt es, dass die Italiener in Wirklichkeit viel reicher sind als die Deutschen?

  Für Aufregung sorgte es in den Nachwehen der Euro-Krise, als die Europäische Zentralbank Statistiken veröffentlichte, in denen die Vermögen für einige der Krisenländer teils deutlich höher ausgewiesen wurden als für Deutschland (17). Dabei stimmt das nur auf den ersten Blick. So ergibt sich für Italien ein relativ hoher Vermögenswert nur dann, wenn man den Medianwert ermittelt. Das ist das Einkommen, das derjenige Haushalt hat, der genau in der Mitte zwischen der reicheren und der ärmeren Hälfte der Bevölkerung steht. Dieses Median-Vermögen lag nach EZB-Daten 2020 mit 132.300 Euro tatsächlich höher als in Deutschland mit 70.800 Euro.

  Dass dieser Wert trügerisch ist, wird klar, wenn man stattdessen den einfachen Durchschnitt der Nettovermögen berechnet. Plötzlich liegt Deutschland nicht mehr hinten, sondern relativ weit vorne – und die Italiener sind im Schnitt mit 214.300 Euro ärmer, nicht reicher als die Deutschen (mit 232.800 Euro). Wenn die Deutschen im Schnitt relativ viel haben, der mittlere Haushalt aber relativ wenig, deutet das in Wirklichkeit vor allem darauf hin, dass die Vermögen bei uns viel stärker bei den Top-Vermögenden konzentriert sind – anders als in Italien, wo sie gleicher verteilt sind, aber im Schnitt dann eben auch geringer. Der Unterschied zwischen Median und Mittelwert ist nirgendwo größer als in Deutschland, was bedeutet, dass Deutschland das Land mit dem größten inländischen Vermögensgefälle in der Eurozone ist (18).

  Dass die Italiener überhaupt auf relativ viel Vermögen kommen, hat dabei viel damit zu tun, dass es dort mehr Wohneigentum gibt. Außerdem fehlt eine größere soziale Absicherung, was dazu führt, dass Italiener mehr Geld zur Sicherheit zurücklegen müssen. Deutsche können umgekehrt etwa Sozial- und Genossenschaftswohnungen nutzen, die nicht zu Privatvermögen zählen (19).

• Ist Ungleichheit gut für Leistung und Wirtschaftswachstum eines Landes?

  Zu Hochzeiten des Marktliberalismus galt, dass Ungleichheit wirtschaftlich gut ist, weil es die Ärmeren dazu animiert, mehr zu leisten. Warum sollte Ungleichheit da wirtschaftlich schlecht sein? Für Aufsehen sorgte vor fast fünfzehn Jahren deshalb das Buch der Briten Kate Pickett und Richard Wilkinson, in denen die Forscher darlegten, wie sehr es die Gesundheit und Lebenserwartung aller in einer Gesellschaft beeinträchtigt, wenn dort sehr ungleiche Verhältnisse herrschen – nicht nur die der Ärmeren, sondern auch der Reichen. Neuere Studien der OECD kommen zu dem Schluss, dass Länder, in denen es weniger Ungleichheit gibt, tendenziell mehr Wirtschaftswachstum haben als andere (20). Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) konnten dies bestätigen, allerdings leicht relativiert: danach beginnt Einkommens-Ungleichheit ab einem bestimmten Ausmaß deutlich negativ auf die Wirtschaft zu wirken - bei einem Netto-Gini-Wert (nach Steuern und Transfers) von etwa 0,27 (21). Für viele europäische Länder, darunter auch Deutschland, ergeben sich nach den IWF-Schätzungen ebenfalls negative Auswirkungen: steigt die Ungleichheit, wirkt das tendenziell dämpfend auf die Wirtschaftsleistung. Unumstritten sind die Ergebnisse allerdings nicht.

• Für Populisten stimmen auch Reiche. Das hat mit Ungleichheit nichts zu tun?

  Dass Populisten in den reicheren Ländern seit Jahren Zulauf haben, scheint mit Reich und Arm wenig zu tun zu haben. So scheint es. Immerhin wählen nicht nur Arme Populisten. Wirklich? Auswertungen von Wahlen ergeben, dass etwa die AfD in Deutschland im Schnitt unter Arbeitern deutlich höhere Zustimmung bekommen. Auch zeigen Studien immer wieder, dass vor allem in den Regionen überproportional Populisten oder rechtsextreme Parteien gewählt werden, die größere wirtschaftliche und soziale Brüche erlebt haben. Das gilt nach Analysen von Autoren wie David Autor für die USA – Donald Trump gewann 2016 entscheidend im Rust Belt, der kriselnden Autoregion. Der Brexit entschied sich nach Auswertungen von Thiemo Fetzer in den nordenglischen Industrieregionen. In Ostdeutschland ist die AfD nach Studien des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) bei Wahlen gerade in den Industrieregionen am stärksten, die von Strukturwandel betroffen sind (22, 23, 24). Wie Populismusforscher Robert Gold in einer Studie herausfand, wirkt umgekehrt eine erfolgreiche Regionalpolitik in der EU mäßigend auf die Neigung, rechtsextreme Parteien zu wählen. In all diesen Fällen ist allerdings nicht zwingend die absolute Ungleichheit der entscheidende Faktor, sondern eher, dass Menschen in Strukturbrüchen die Kontrolle über ihr Schicksal zu verlieren drohen – und aus Wut und Verzweiflung dann dazu neigen, Populisten zu wählen.

• Würde eine Vermögensteuer die Ungleichheit beheben – und wenn nicht, was sonst?

  Was würde eigentlich am besten helfen, um etwas an der Konzentration der Vermögen bei den Reichsten zu ändern - und anderen zu mehr Vermögen zu verhelfen? In den politischen Debatten dominieren hier Forderungen nach (höheren) Vermögen- oder Erbschaftsteuern. Wieviel aber würde es an der Verteilung tatsächlich ändern, wenn Reichere höhere Steuern zahlen? Darüber gab es bisher wenig belastbare Erkenntnisse. Das Forum New Economy hat daher in einem umfangreichen Projekt mit intensiver wissenschaftlicher Begleitung Simulationsmodelle erstellen lassen, um solche Effekte besser abschätzen und quantifizieren zu können. Danach würde etwa die gängig geforderte einprozentige Vermögensteuer kaum etwas messbar an den Anteilen von Reichen und Ärmeren an der gesamten Vermögensverteilung ändern. Einen größeren Effekt hätte es, ein soziales Erbe zu beschließen, also jedem 20-Jährigen eine Summe zu überweisen, die für Bildungs- oder Altersvorsorgezwecke genutzt werden kann. Bei einer höheren Summe würde dies die Vermögensverteilung über zehn Jahre spürbar verändern. Allerdings wäre so eine Maßnahme für den Staat natürlich auch teurer. Eine Vermögensteuer von einem Prozent würde umgekehrt Geld in die Kassen des Finanzministers bringen. Die vollständigen Ergebnisse samt Vermögens-Simulator finden Sie auf der Homepage.

• Eine Erbschaftssteuer würde viele Unternehmen in die Pleite treiben und Omas Haus gefährden. Stimmt das nicht?

  In den gängigen Vorschlägen zur Erbschaftsteuer werden Vermögen bis zu einem relativ hohen Betrag stets von der Besteuerung ausgenommen. Es gelten entsprechende Freibeträge. De facto gibt es heute unzählige Ausnahmen, Schwellenwerte und Sonderbestimmungen, um Familienvermögen wie Hauptwohnsitze oder kleine Unternehmen auszunehmen. Das hat nur dazu geführt, dass es relativ hohe Freibeträge von 400.000 Euro für Kinder und 200.000 Euro für Enkelkinder gibt. Auch zahlen Menschen auf Erbschaften und Schenkungen von mehr als 20 Millionen Euro oft einen niedrigeren Steuersatz, und viele Firmenerben bleiben sogar völlig steuerfrei (25). Auswertungen zufolge entfielen zwischen 2009 und 2020 in Deutschland 12 Prozent aller steuerfreien Unternehmensübertragungen auf Kinder unter 14 Jahren. Dass es dringend wäre, die Erbschaftsteuer wieder konsequenter zu erheben – ohne Omas Haus zu gefährden – ist daher heute eher Konsens unter Experten und Expertinnen sowie über Parteigrenzen hinweg (26).

• Zahlen die Reichsten in Deutschland nicht schon jetzt die meisten Steuern?

  Das deutsche Steuersystem ist so angelegt, dass Reichere mehr Steuern zahlen als andere. Bei steigendem Einkommen steigen auch die jeweiligen Steuersätze auf jeden zusätzlich verdienten Euro. Das soll sicherstellen, dass Bezieher besonders hoher Einkommen einen größeren Anteil am Gesamtsteueraufkommen leisten. De facto zahlen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mehr als 50 Prozent der Einkommensteuer (27). Dahinter steckt natürlich ein Stück weit auch das Phänomen sehr ungleicher Verteilung. Immerhin 28 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekommen so wenig Gehalt, dass sie unter den Freibeträgen bleiben und gar keine Steuer zahlen. Entsprechend größer ist allein deshalb der Steueranteil derer, die mehr haben.

  In Wirklichkeit zahlen die Bezieher besonders hoher Einkommen in aller Regel aber deutlich weniger Steuern, als sie den Steuersätzen entsprechend müssten. Das liegt daran, dass es für Reichere mehr Möglichkeiten gibt, Steuern legal (oder illegal) zu vermeiden. Wie eine Studie von Gabriel Zucman und Kollegen gezeigt hat, hinterziehen vor allem Superreiche Steuern: Die reichsten 0,01 Prozent der Bevölkerung schaffen es danach, gut 30 Prozent ihrer Steuern am Fiskus vorbeizulenken. Diese Zahlen beziehen sich auf drei skandinavische Länder. Wie die Autoren darlegen, gibt es in anderen europäischen Ländern - einschließlich Deutschland - einen noch höheren Anteil an Offshore-Konten im Ausland, was vermutlich auf einen noch höheren Prozentsatz an Steuerhinterziehung hindeutet als in den drei nordischen Ländern (28).