Mit der Geburt fängt die Ungleichheit an
- Von Gerrit ter Horst
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In Deutschland wird Ungleichheit nicht erarbeitet, sie wird vererbt. Während das Land in den Statistiken zur Einkommensungleichheit regelmäßig im internationalen Mittelfeld landet, zeichnet es sich durch eine stetig wachsende Vermögensungleichheit aus. Aktuelle Zahlen der Bundesbank weisen aus, dass 10 % aller Haushalte 60 % des Nettovermögens in Deutschland besitzen. Ein Großteil dieses Vermögens existiert bereits in Form von Unternehmensbeteiligungen, Immobilien und anderen Wertanlagen und mehrt sich von Generation zu Generation. In „Unverdiente Ungleichheit“ diskutiert die Politikwissenschaftlerin Martyna Linartas Auswege aus der gesellschaftlichen Schieflage und analysiert, wie zu verschiedenen Zeiten über Ungleichheit und ihre Bekämpfung gesprochen und argumentiert wurde.
Die Frage, ob eine Gesellschaft Ungleichheit bekämpft, entscheidet sich zunächst daran, ob sie sie als Problem identifiziert. Neoliberale Positionen dazu waren stets, dass Ungleichheit ein natürlicher Zustand von Gesellschaften sei, dass Leistungsbereitschaft und innovatives Denken eben ungleich verteilt seien und Ungleichheit sogar ein Ansporn für diejenigen sei, die noch kein Vermögen besäßen. Die Gegenseite wendet ein: Vermögensungleichheit habe nicht nur nichts mit Leistung zu tun – sonst bliebe Vermögen nicht immer da, wo es ohnehin schon vorhanden ist –, sondern sie kreiere auch gesellschaftliche Probleme: „All die Probleme, Sicherheit, Kriminalität und das Unglücksempfinden in der Bevölkerung hängen ganz direkt mit Ungleichheit zusammen. Wenn die wirtschaftliche Ungleichheit zunimmt, verschlechtern sich auch unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden“, so Linartas. Hinzu kommen weitere Aspekte, wie zum Beispiel, dass besonders reiche Menschen auch besonders viele CO₂-Emissionen verursachen.
Dass Linartas eine Sympathie für die zweite Position hat, daran lässt „Unverdiente Ungleichheit“ keinen Zweifel. Doch die Autorin belässt es nicht beim Beklagen eines aus ihrer Sicht unfairen Zustands, sondern geht in die historische Analyse: Verschiedene Zeiten haben unterschiedlich auf die Herausforderungen von Ungleichheit reagiert. Um diesen öffentlichen Diskursraum beschreiben zu können, entwirft Linartas ihr eigenes Paradigmen-Narrativ-Modell anhand eines Theaterbaus:
Nach Linartas müssen wir uns die vorherrschende Ideologie, also den Kapitalismus, als das Theaterhaus vorstellen. Darin werden Stücke gespielt – das, was sie Paradigmen nennt. Die hießen früher beispielsweise Keynesianismus, das letzte Stück, das aufgeführt wurde, hieß Neoliberalismus. Wie das neue Stück/Paradigma heißen wird, das ist die Frage, die auch das Forum New Economy beschäftigt. Innerhalb der Stücke gibt es Schauspieler – Diskursakteure – und Narrative, also die Erzählungen des Stückes. Ein klassisches Narrativ im Paradigma des Neoliberalismus wäre: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Diese Narrative sind es, die die Autorin besonders interessieren und die sie für hundert Jahre Steuer- und Sozialpolitik in Deutschland zu identifizieren versucht.

Linartas’ Narrativarchäologie beginnt bei der Erzbergerschen Finanzreform 1919/20: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs galt es mit der Weimarer Republik ein neues Staatswesen aufzubauen und gleichzeitig die maroden Finanzen, die durch den Versailler Vertrag stark belastet waren, zu sanieren. Die Reform gilt als Gründungsakt des modernen Steuerrechts in Deutschland und sah die Einführung eines progressiven Einkommenssteuersystems vor, ebenso wie die einheitliche Erhebung der Erbschafts- und Umsatzsteuer sowie die außerordentlich erhobene Reichsnotopfer-Abgabe. Wie die Autorin anhand von Parlamentsdiskussionen und anderen Quellen aus der Zeit zeigt, zielten die Narrative rund um die Finanzreform auf Aspekte der „Gerechtigkeit, Demokratie und Ungleichheit“. Die eingeführten Steuern waren nicht nur Mittel zur Finanzierung des Staates, sondern sollten Gerechtigkeit herstellen und ein demokratisches Miteinander ermöglichen. Ein erreichter Konsens, der schon wenige Jahre später erste Risse erhielt: Nach Erzbergers Tod wurde 1922 eine weitere Reform durchgeführt, die die Erbschaftssteuer senkte und weitere Ausnahmen einführte. Narrative gegen eine starke Besteuerung von Erbschaften – wie der Schutz der Familie und die Wirtschaftsförderung – hatten sich durchgesetzt.
In diesem Verfahren legt die Autorin Schicht für Schicht frei, wie sich die Diskussion um Gleichheit und Steuergerechtigkeit in Deutschland entwickelt hat, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Ordoliberalen durchsetzten und wie schließlich zum Ende des Jahrhunderts das neoliberale Paradigma dominant wurde. Nach und nach wandelte sich das Narrativ über Steuern als Mittel für gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Wirtschaftshemmnis, das obendrein noch unfair gegenüber den Besteuerten sei.
Was bringt der Blick nach vorn? Linartas plädiert für eine konsequentere Erhebung der Erbschaftssteuer, über die man dann Ideen wie die des Startkapitals für junge Menschen finanzieren könnte. Doch immer noch sind viele sich widersprechende Narrative im Umlauf, und die Debatte wird hochemotional geführt. Manche sehen den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet, andere fürchten das Ende der Familienunternehmen, wieder andere haben Sorge, dass Omas Haus von der Erbschaftssteuer verschlungen wird. Um zu einer anderen Form der Steuerpolitik zu kommen, wird man nicht nur kluge politische Vorschläge machen, sondern auch die richtigen Narrative finden müssen.
Martyna Linartas: Unverdiente Ungleichheit. Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann. Rowohlt Verlag. Hamburg 2025. 320 Seiten.
