Die dekommodifizierte Gesellschaft
- Von Gerrit ter Horst
- Lesedauer 4 Min

Als 1990/91 die Ära des Kalten Kriegs endete, sollte sich endlich das erfüllen, was der Reagan-Thatcherismus und seine Vordenker propagiert haben: Der freie Fluss von Waren und Transaktionen sollte nicht nur Wohlstand, sondern auch Demokratie in die ganze Welt tragen. Doch die Öffnung der Welt und der Märkte sorgte in den westlichen Industrieländern schon bald für eine große Umverteilung von Wohlstand: Unternehmensgewinne stiegen, Industriearbeitsplätze wurden in Länder mit günstigeren Produktionsbedingungen verlegt. Einer, der früh vor den Effekten einer marktliberalen Globalisierung gewarnt hat, war der Philosoph Michael J. Sandel. In seinem 1996 erschienenen Buch „Democracy’s Discontent“ beschrieb er einen Prozess (bezogen auf die amerikanische Gesellschaft), in dem die zunehmende Durchdringung von Marktlogiken das gesellschaftliche Fundament erodieren ließen.
Rund zwanzig Jahre später trat ein französischer Ökonom und Wirtschaftshistoriker auf die große Bühne: Thomas Piketty. Mit seinem weltweiten Erfolg „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ traf er den Nerv einer Zeit, die durch die Weltfinanzkrise und die darauffolgende Eurokrise für ökonomische Themen sensibilisiert war. So wenig neu seine These auch war, nämlich den Kapitalismus als ein System zu beschreiben, das unweigerlich die Konzentrierung von Wohlstand fördert, so sehr schien eine Öffentlichkeit bereit zu sein, mit dieser These in die Auseinandersetzung zu gehen. Pikettys Buch und sein Erfolg signalisierte einen der vielen Risse im vorherrschenden Paradigma.
Nun, wiederum ein Jahrzehnt später, haben sich beide zusammengefunden und gesprochen. Dabei herausgekommen ist das Buch „Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert.“ Es ist ein Gespräch in Buchform, in dem sie das Wesen der Ungleichheit ergründen. Dabei machen sie zunächst drei Konfliktfelder fest, die Ungleichheit überhaupt zum Problem machen: Zugang zu Grundgütern, Zugang zu politischer Teilhabe und die Wahrnehmung der eigenen Stellung, was sie als Würde beschreiben.
Ungleichheit ist nicht nur der Unterschied der Kaufkraft, sondern wer Wohlstand akkumuliert, hat besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, kann politische Prozesse beeinflussen und besitzt sozial-kulturelles Kapital. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben politische Bewegungen darauf reagiert, die beiden Autoren beziehen sich vor allem auf die britische Labour-Party und die schwedische Sozialdemokratie. Um das soziale Spielfeld einzuebnen, haben sie vor allem mit zwei Instrumenten gearbeitet, die für Piketty und Sandel zentral sind: Umverteilung und Dekommodifizierung.
Während Umverteilung vor allem bei Steuern ansetzt und so über progressive Steuern und Vermögensabgaben Geld von oben nach unten verteilt, beschreibt die Dekommodifizierung einen Prozess, in dem ganze gesellschaftliche Bereiche (wie das Bildungswesen) aus der Logik des Gewinnstrebens herausgelöst werden: Eine Schule in einem steuerfinanzierten Bildungswesen muss sich nicht rechnen, sondern gute Bildung anbieten. Dass es Bereiche geben muss, zu denen jeder in der Gesellschaft, ganz gleich des sozialen Status‘, Zugang haben muss, ist einer der Kernthesen des Buches. Gesellschaft verwirklicht sich erst richtig, wenn dies erreicht ist. Dekommodifizierung ist jedoch nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern es gibt diese Fälle, in denen Marktlogiken sogar zu weniger Effizienz führen können: Das weitgehend durchkapitalisierte Gesundheitssystem der USA ist eines der teuersten.
Diese Art von Dekommodifizierung ist in sozialdemokratisch geprägten Ländern wie denen in Skandinavien stärker ausgebildet als in den USA. Weder Sandel noch Piketty haben allerdings die Hoffnung aufgegeben, dass sich die USA in Richtung von mehr Gleichheit aufmachen kann: Sehr offen zeigen sie Sympathien für Figuren wie Bernie Sanders, die durch höhere Besteuerung von Reichtum das gesellschaftliche Gleichgewicht anders ausbalancieren wollen. Und sie diskutieren andere Konzepte: Lotterien für Studienplätze an Universitäten genauso wie ein Wahlsystem, das die Parteien zwingen würde, demografische und soziale Faktoren beim Aufstellen ihrer Kandidaten miteinzubeziehen.
In ihrer Suche nach Antworten zeigt sich vor allem: Die Ära des globalisierten Marktliberalismus ist an ein Ende gekommen. Mit Trump, Musk und der europäischen Rechten macht sich eine andere politische Kraft auf, in dieses Vakuum hineinzustoßen. Daher ist es noch mal wichtiger, Thomas Piketty und Michael Sandel bei ihrem Gespräch gut zuzuhören. Denn es macht deutlich: Ungleichheit in ihrer extremen Form ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis von Interessen, die sich durchgesetzt haben.
Thomas Piketty/Michael J. Sandel: Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. C.H. Beck. 2025. 158 Seiten.