Neues Piketty-Buch: Warum Ungleichheit die Mutter aller Probleme ist

  • Von David Kläffling
  • Lesedauer 3 Min

Eine historische Analyse von französischen Wahlergebnissen zeigt, dass nicht die Migration, sondern vor allem sozioökonomische Faktoren den Aufschwung rechter Parteien erklären.

Die aktuelle politische Debatte in der Europäischen Union scheint dem ehemaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer Recht zu geben, der die Migration einst als die ‚Mutter aller Probleme‘ bezeichnete. Warum diese Sicht auf den Aufstieg rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien zu kurz gedacht ist, zeigt ein neues Buch der französischen Ökonomen Julia Cagé und Thomas Piketty.

Die beiden Autoren untersuchen in ihrer historischen Analyse Determinanten französischer Wahlergebnisse auf Kommunalebene seit der französischen Revolution. Die reichhaltige Querschnittsvariation der Wählerprofile in den gut 36.000 französischen Gemeinden ermöglicht eine präzise Untersuchung möglicher Treiber von Stimmen für rechte Parteien, wie Einkommen, Vermögen, Bildung, Migration, oder regionale Faktoren.

Zwei Konfliktlinien sind in den letzten Jahren laut der Studie besonders relevant geworden: Stadt-Land-Gefälle und sozioökonomischer Status – repräsentiert durch Einkommen, Vermögen, Bildung und Wohneigentum. Der urbane Niedriglohn-Dienstleistungssektor wählt eher links, während (ehemalige) Industriearbeiter auf dem Land eher zu rechten Parteien tendieren.

"Mit anderen Worten: Die politische Landschaft Frankreichs lässt sich wie folgt beschreiben: Wähler mit niedrigem Einkommen in den Städten, bei denen es sich hauptsächlich um Angestellte im Dienstleistungssektor und Mieter handelt, wählen überwiegend die Linke, während Wähler aus der Arbeiterklasse außerhalb der Großstädte, bei denen es sich hauptsächlich um Arbeiter und Hausbesitzer handelt, eher Parteien der extremen Rechten wählen."

Außerdem zeigen die beiden Autoren, dass die sozioökonomische Struktur von Kommunen für die Erklärung von Wahlergebnissen noch nie so wichtig war wie in den letzten Jahren. So erklären in den letzten Präsidentschaftswahlen sozioökonomische Variablen ca. 70% der Variation der Wählerstimmen, wohingegen sie 1981 nur 50% bzw. 1848 nur 30% erklärten. Dahingegen spielt Migration entgegen der in der öffentlichen Debatte dominierenden Auffassung eine eher untergeordnete Rolle – selbst bei rechten und rechtsextremen Parteien.

"Sozioökonomische Fragen sind die wichtigsten Bestimmungsfaktoren für die Wahlentscheidungen. Wenn sich die Arbeiter in den letzten Jahren der extremen Rechten zugewandt haben, dann vor allem deshalb, weil sie unverhältnismäßig stark unter dem globalisierten Handel und der Deindustrialisierung sowie dem mangelnden Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gelitten haben. In dieser Hinsicht fühlten sie sich von der Linken, die in den letzten 40 Jahren in Frankreich an der Macht war, im Stich gelassen. Daraus können wir natürlich Lehren für das ziehen, was heute in anderen europäischen Ländern geschieht. In ganz Europa muss die Linke die Wähler davon überzeugen, dass sie einen angemessenen Schutz gegen soziales, steuerliches und ökologisches "Dumping" bieten kann - wenn nötig durch einseitige Maßnahmen."

Aus ihren Ergebnissen leiten die Autoren eine eindeutige Politikempfehlung ab. Die politische Debatte sollte weniger Gewicht auf das Thema Migration legen, sondern sich auf andere Politikfelder konzentrieren. Das Bereitstellen öffentlicher Dienstleistungen in ländlichen Gebieten, einer pro-aktiven Regionalpolitik gegen Deindustrialisierung, Maßnahmen gegen den ungleichen Zugang zu Eigentum und der ungleichen Verteilung von Vermögen.

"Unsere Ergebnisse geben Anlass zu Optimismus: Der Mangel an öffentlichen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten, die Deindustrialisierung, der ungleiche Zugang zu Eigentum und die zunehmende Ungleichheit sind alles Probleme, die durch die Umsetzung geeigneter Maßnahmen angegangen werden können. Identitätspolitik hingegen führt in der Regel nur zu mehr Spannungen und Konflikten innerhalb der Gesellschaft."

Eine kurze Zusammenfassung der Analyse gibt es hier.